Wie viele Töne braucht Musik? Über „klassische“ Sequenzer

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von Gis­bert

Elek­tro­ni­sche Musik, das kann Musik sein, die mit elek­tro­ni­schen Klän­gen gemacht wird. Spie­le ich zum Bei­spiel auf der Tas­ta­tur eines Syn­the­si­zers eine Inven­ti­on von J. S. Bach, dann ist das eine elek­tro­ni­sche Ver­si­on die­ses ursprüng­lich akus­ti­schen Stü­ckes Musik.

J. S. Bachs Inven­ti­on No. 13, gespielt von Pier­lui­gi Giom­bi­ni auf ver­schie­de­nen Synthesizern

Neben der Klang­er­zeu­gung kann ich aber auch das Spie­len der Töne von einem Gerät erle­di­gen las­sen, und zwar von einem soge­nann­ten Sequen­zer. An einem Sequen­zer kann ich ein­stel­len, wann wel­cher Ton erklin­gen soll, und das dann abspie­len lassen.

Der „klassische“ Sechzehn-Step Sequenzer

Sequen­zer gibt es heu­te in etli­chen Ver­sio­nen: Gerä­te, Soft­ware mit den unter­schied­lichs­ten Benut­zer­ober­flä­chen und Funk­tio­nen. Sehr ver­brei­tet, ja, so ver­brei­tet, dass man von einem „klas­si­schen“ Sequen­zer spre­chen könn­te, ist der Sequen­zer mit 16 soge­nann­ten Steps.

SQ-1 Sequen­zer mit sech­zehn Dreh­reg­lern um Ton­hö­hen einzustellen

Mit einem klas­si­schen Sequen­zer kann ich eine Abfol­ge von sech­zehn Tönen pro­gram­mie­ren, z. B. so etwas:

Eine typi­sche Sequenz mit auf­ein­an­der­fol­gen­den 16 Tönen

Wenn ich ver­schie­de­ne zeit­li­che Abstän­de zwi­schen den Tönen haben möch­te, kann ich Töne ausschalten:

Sequenz mit 16 Posi­tio­nen, man­che wer­den als Töne gespielt, ande­re als Pausen

Dann habe ich aber noch nicht mal mehr sech­zehn Töne zur Ver­fü­gung. Reicht das trotz­dem? War­um sind so auf­ge­bau­te Sequen­zer nicht längst ver­schwun­den son­dern wer­den immer noch ver­kauft? War­um ori­en­tie­ren sich auch vie­le Soft­ware-Sequen­zer immer noch an so einem Auf­bau?
Dar­auf gibt es vie­le Antworten.

Musik und Text

Die Geschich­te euro­päi­scher Musik­tra­di­ti­on ist ver­knüpft mit Tex­ten. In der Kir­chen­mu­sik wur­den z. B. Psal­men aus der Bibel ver­tont. Die­se Musik war direkt ver­bun­den mit Tex­ten aus der als hei­li­ges Buch ver­stan­de­nen Bibel. So, wie die Wor­te die­ser Tex­te schrift­lich fixiert waren, wur­den auch die Ton­hö­hen nie­der­ge­schrie­ben, zunächst mit soge­nann­ten Neu­men, schieß­lich mit der uns auch heu­te noch ver­trau­ten Notenschrift.

Frü­he Musik­no­ta­tio­nen Quel­le: Dr. 91.41 – Eige­nes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5205010
Anfang des Kin­der­lie­des „Backe Backe Kuchen“ mit heu­ti­ger Noten­schrift und Text

Aus die­ser Ver­bin­dung hat sich eine Musik­kul­tur ent­wi­ckelt, in der Musik­ma­chen und das Lesen von Noten in einem engen Zusam­men­hang ste­hen. So heißt es im Eng­li­schen „Can you read music?“, wört­lich „Kannst Du Musik lesen?“ Musik und das Noten­blatt wer­den gleichgesetzt.

Wenn man so an Musik her­an­geht, dann erge­ben sich Erwar­tun­gen an Musik, die von Erwar­tun­gen an Tex­te her­rüh­ren. Wie ein Buch, so wer­den auch Noten von links nach rechts in von oben nach unten ange­ord­ne­ten Zei­len auf­ge­schrie­ben. Lese ich ein Buch, dann ist mei­ne Erwar­tung, dass ich im fort­schrei­ten­den Pro­zess des Lesens neue Infor­ma­tio­nen erhal­te: im Lau­fe eines Sach­bu­ches ler­ne ich mehr über des­sen Gegen­stand, im Lau­fe eines Romans ver­fol­ge ich des­sen Hand­lung und wech­seln­de Atmo­sphä­ren. Folg­lich: schrei­tet ein Musik­stück fort, soll es mehr und neue Infor­ma­tio­nen bie­ten.
Mit sech­zehn Posi­tio­nen, die ich ent­we­der für Töne oder Pau­sen brau­che, schaf­fe ich aber gera­de eben die ers­ten zwei Tak­te von „Backe backe Kuchen“:

Sequen­zer Fail: die Spei­cher­fä­hig­kei­ten rei­chen nicht mal aus für Backe backe Kuchen 

Um das Kin­der­lied kom­plett zu sequen­zie­ren, bräuch­te ich vier Sequen­zer die jeweils nach­ein­an­der abspielen.

Fazit: für wie Text line­ar fort­schrei­ten­de Musik fällt so ein klass­si­scher Sequen­zer durch: 16 Töne sind zu wenig!

Ein Blick zurück

Schon lan­ge vor dem Beginn elek­tro­ni­scher Musik gab es Mecha­nis­men, um Musik zu machen. Vor­läu­fer eines elek­tro­ni­schen Sequen­zers sind mecha­ni­sche Gerä­te wie Spiel­uhr, Dreh­or­gel oder das selbst-spie­len­de Kla­vier. Vie­le davon nutz­ten Tech­ni­ken, die sich mit der Per­spek­ti­ve von Musik als Text in Ver­bin­dung brin­gen las­sen, zum Bei­spiel die Dreh­or­gel oder auch das Play­er Piano.

Die soge­nann­te Pia­no Roll des Play­er Pia­nos hat Ähn­lich­kei­ten mit einer Schrift­rol­le. Statt Schrift­zei­chen geben Löcher im Papier an, wel­cher Klang zu wel­chem Zeit­punkt erklin­gen soll. Möch­te ich ein län­ge­res Musik­stück mit mehr auf­ein­an­der fol­gen­den Tönen: kein Pro­blem, lässt sich mit einer län­ge­ren Papier­rol­le lösen.

Lud­wig van Beet­ho­vens „Mond­schein­so­na­te“ per Play­er Piano

Die Pia­no Roll und ihr per­kus­si­ves Pen­dant, die Drum Roll sind auch heu­te noch übli­che Ober­flä­chen vie­ler Musik­soft­ware, direkt im Brow­ser kann man zum Bei­spiel den Online­se­quen­cer ausprobieren:

Lud­wig van Beet­ho­vens „Mond­schein­so­na­te“ im Onlinesequencer

Statt Löchern im Papier haben wir es nun mit Käst­chen in einer geras­ter­ten Ober­flä­che zu tun, auch ist die Lese­rich­tung anders. Aber es ist deut­lich, das die Grund­prin­zi­pi­en gleich­ge­blie­ben sind: Klän­ge wer­den durch über­ein­an­der ange­ord­ne­te Zei­chen mar­kiert auf einer Flä­che, die mit der Zeit immer wei­ter fort­schrei­tet. (Mehr zu diver­sen Mecha­nis­men in die­sem schö­nen Video von Hain­bach über das Musik­in­stru­men­ten-Muse­um in Markneukirchen.)

Wiederholung statt stets Neues

Eine Spiel­uhr mit Wal­ze als „Noten­spei­cher“

Ganz ähn­lich ver­hält es sich auch bei der Spiel­uhr die oben zu sehen ist, aber mit einem ganz wesent­li­chen Unter­schied: an die Stel­le einer (theo­re­tisch end­lo­sen) Papier­rol­le bzw. Soft­ware­ober­flä­che tritt hier die durch die Wal­ze vor­ge­ge­be­ne Schlei­fe: ein kur­zes Stück Musik, von der Län­ge einer Umdre­hung wie­der­holt sich stets.

Auf so einer Spiel­uhr schrumpft die „Mond­schein­so­na­te“ auf die ers­ten paar Tak­te zusam­men, mehr passt nicht auf die Walze.

„Mond­schein­so­na­te“ in Kurz­form. Mehr passt nicht auf die Walze

Es gibt durch­aus auch Spiel­uh­ren, die mit Loch­strei­fen­pa­pie­ren ähn­lich der Pia­no Roll funk­tio­nie­ren und deut­lich län­ge­re Musik spie­len kön­nen. Aber Spiel­uh­ren mit Wal­ze schei­nen dadurch nicht ver­drängt wor­den zu sein son­dern wer­den auch wei­ter­hin her­ge­stellt. Ein Grund dafür ist, dass dass Ver­ständ­nis von Musik als Text, mit dem stets wei­te­re, neue Infor­ma­tio­nen ver­mit­telt wer­den, nur teil­wei­se zutrifft. Musik kann For­men anneh­men, die ganz ande­re Funk­tio­nen erfüllen.

Eine Funk­ti­on von Spiel­uh­ren war und ist, zum Ein­schla­fen von Kin­dern auf­ge­zo­gen und abge­spielt zu wer­den. Zum Ein­schla­fen braucht es kei­ne Musik, die stets neue Infor­ma­tio­nen lie­fert, son­dern eher die Mono­to­nie eines ange­neh­men Rei­zes. Eine kur­ze Dau­er, weni­ge Töne, sol­che Begren­zun­gen wer­den in die­ser Funk­ti­on zu Tugen­den. Etwas Ver­trau­tes wird wie­der­holt und unter­stützt Ent­span­nung und Gefüh­le von Gebor­gen­heit. Vie­le Spiel­uh­ren nut­zen zwar mehr Töne als die sech­zehn des klas­si­schen Sequen­zers, aber es taucht hier eine Per­spek­ti­ve auf, dass ein Weni­ger an Infor­ma­tio­nen nicht zwin­gend in allen Zusam­men­hän­gen schlech­ter sein muss.

Betrach­te ich Musik vor allem in Bezug zu Text und Infor­ma­ti­on, dann erge­ben sich spe­zi­fi­sche Erwar­tun­gen an Auf­füh­rungs­si­tua­tio­nen:
Infor­ma­tio­nen flie­ßen von Mit­tei­len­den, also Musi­kerinnen, Kom­po­nistinnen, zu Zuhö­ren­den. So wie auch eine Autorin für ihre Leser schreibt, oder ein Spre­cher sich an ein Publi­kum wendet.

Es gibt aber eben vie­le vie­le ganz ande­re Situa­ti­on des Musikmachens.

Wenn ein*e DJ im Gen­re Tech­no Musik auf­legt, dann wol­len die Tan­zen­den die Ver­läss­lich­keit eines ste­ti­gen Beats. Die Gleich­mä­ßig­keit des regel­mä­ßi­gen Beat ermög­licht eine Frei­heit der impro­vi­sier­ten Tanz­be­we­gung. Das tan­zen­de Publi­kum ist damit ziem­lich aktiv am Gesche­hen betei­ligt, kre­iert sel­ber lau­fend neue Infor­ma­tio­nen durch Bewe­gungs­mus­ter. Die rela­ti­ve Mono­to­nie des Rhyth­mus ist hier Vor­aus­set­zung und Rah­men für eine Viel­zahl par­al­le­ler Aktivitäten.

Musik, die aus sich wie­der­ho­len­den Schlei­fen (auch: Loops) auf­ge­baut ist hat eine lan­ge Tra­di­ti­on und erfüllt vie­le wei­te­re Funk­tio­nen neben der ein­lul­len­den Mono­to­nie der Spiel­uhr oder der Ver­läss­lich­keit regel­mä­ßi­ger Beats in Tanzmusik-Genres.

An die Stel­le der Idee eines fort­schrei­ten­den Tex­tes eig­net sich zum struk­tu­rel­len Ver­ständ­nis hier viel eher ein Den­ken in Zyklen anhand von Kreis­dar­stel­lun­gen. Online gibt es zum Bei­spiel die wun­der­ba­re Groo­ve­piz­za, mit der man sich stets wie­der­ho­len­de Rhyth­men ein­ge­ben kann.

Ein deut­sches Groo­ve­piz­za Tutorial

Das Bild des Krei­ses macht deut­lich: die Musik muss sich nicht zwin­gend „bewe­gen“ zu einem nächs­ten Kapi­tel. Das sich stets wie­der­ho­len­de Mus­ter von Klän­gen kann einen ver­läss­li­chen Ansatz­punkt bie­ten, für Akti­vi­tä­ten, die sich dar­an fest­ma­chen. Das kann Tanz sein, dass kann aber auch bedeu­ten, aus­ge­hend von der Wie­der­ho­lung musi­ka­li­sche Ent­wick­lun­gen zu impro­vi­sie­ren. Und genau dabei, bei der Impro­vi­sa­ti­on auf der Basis von Wie­der­ho­lung, kom­men die Stär­ken der ein­gangs ange­spro­che­nen klas­si­schen Sequen­zer mit sech­zehn Steps zum Einsatz.

Improvisieren mit einem Sequenzer

Hier nun eini­ge Bei­spie­le für Impro­vi­sa­tio­nen mit klas­si­schen Sequen­zern. Zunächst steht hier Wie­der­ho­lung mit nur sub­ti­len Ver­än­de­run­gen im Vordergrund:

Wie­der­ho­lung mit sub­ti­len Veränderungen

Als nächs­tes eine sehr ande­re Her­an­ge­hens­wei­se: Fokus auf Impro­vi­sa­ti­on, Ver­än­de­rung und Überraschung:

Impro­vi­sa­ti­on, Ver­än­de­rung und Überraschung

Um sel­ber mit sol­chen Sequen­zen zu expe­ri­men­tie­ren muss man nicht unbe­dingt einen Sequen­zer kau­fen. Inzwi­schen ist der Auf­bau die­ser Gerä­te viel­fach in Soft­ware nach­voll­zo­gen, auch ohne Instal­la­ti­on, direkt zugäng­lich und kos­ten­los im Browser:

  • Kin­der­leicht und über­sicht­lich: der Song-Maker im Music­lab von Chrome.
  • Roland 50 Stu­dio bie­tet eine gan­ze Rei­he ver­schie­de­ner Syn­the­si­zer und Drummachines.

Lust auf mehr?

Musik machen mit klas­si­schen Sequen­zern, dass kann man auch im Unter­richt bei lev ausprobieren.

Auch inter­es­sant: mei­ne Rei­hen „Ein­füh­rung elek­tro­ni­sche Musik“ und „Musik­theo­rie ver­ste­hen“ an der VHS Pan­kow. Der ein­fachs­te Weg, VHS-Kur­se zu fin­den ist die Suche über den Namen des Dozen­ten, in mei­nem Fall: Gis­bert Schürig

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