lev war Teil des Schülerlabors Geisteswissenschaften 21/22 an der Berlin-Brandenburgerischen Akademie der Wissenschaften. In 10 Workshops haben sich Schüler*innen mit dem Werk Bernd Alois Zimmermanns auseinandergesetzt, im Speziellen mit der editorischen Aufarbeitung eines seiner wenigen elektronischen Stücke mit dem Namen “Tratto”. Die wissenschaftliche Perspektive lieferte dabei die Wissenschaftler*innen der Bernd-Alois Zimmermann Gesamtausgabe, eines der vielen Forschungsprojekte der BAAW. Den kreativ-gestalterischen Part bediente Marten von lev.
Die Workshops begannen mit dem Stück selbst:
Das quadrophone Stück von 1968 ist ziemlich genau 15 Minuten lang – ein Umstand auf den Zimmermann selbst offenbar gerne hinwies, um die mathematische Genauigkeit seiner elektronischen Komposition zu unterstreichen. 15 Minuten avantgardistische, elektronische Klangkunst aus den späten 60ern ist auch für heutige Ohren alles andere als selbstverständlich. Auf die meisten Menschen wirkt sie in ihrer scheinbaren Strukturlosigkeit und Atonalität eigenartig, fremd und nicht selten abstoßend. Tatsächlich aber waren die Reaktionen in der Feedbackrunde, die sich an das erste Hören anschloss, in aller Regel offen und neugierig, wenn auch überrascht. Nun waren die Teilnehmer*innen Schüler*innen aus Grund- und Leistungskursen des Fachs Musik, also gewissermaßen vom Fach. Trotzdem bleibt bemerkenswert, dass diese fast 60 Jahre alten Klänge, die wahrscheinlich ein historischer Fixpunkt unserer heutigen elektronischen Musikkultur sind, noch immer so ungewohnt klingen und irritieren. Um dieses ästhetische Phänomen tiefer zu ergründen, bräuchte es jedoch ein eigenes Forschungsvorhaben der BAAW.
Im Workshop folgte ein Block, in dem die Mitarbeiter*innen der BBAW Zimmermann selbst, sein Stück “Tratto” und ihre Arbeit daran vorstellten. Der künstlerische und technologische Zeitgeist der späten 60er wurde besprochen und der Stand der interpretatorischen und editorischen Arbeit am Werk präsentiert.
Ich persönlich begreife “Tratto” als eines von Zimmermanns schwächeren Arbeiten. Der Fokus seines künstlerischen Schaffens lag nicht auf der elektronischen Musik und so wirkt das Stück auf mich insgesamt etwas durchschnittlich und unspektakulär. Gerade im (zugegeben etwas unfairen) Vergleich zu Arbeiten seiner Zeitgenoss*innen wie Stockhausen, Boulez, Else Marie Pade, etc.. Nachdem ich es aber in den letzten Monaten an die 22 Mal in voller Länge gehört habe, muss ich sagen, dass die ersten etwa 30 Sekunden des Stückes in ihrer mollaren Grundstimmung fantastisch sind. Danach verliert sich das Stück aus heutiger Perspektive in Klischees.
In der zweiten Hälfte des 4-stündigen Workshops wurde es kreativ. Marten gab eine Schnelleinführung in die Grundlagen der Akustik mit Fokus auf Sinusschwingungen, Obertonspektren und additive Klangsynthese. Auf Basis dieses Inputs gestalteten die Schüler*innen unter Einsatz einer eigens für die Reihe programmierten Sinus-Synthesizer Software eigene Sinustongemische. Manche versuchten sich an Schwebungen, andere an Frequenzmodulation, wieder andere ließen die Obertöne in melodiösen Verläufen durch das Spektrum wandern. Es ist immer wieder bemerkenswert zu beobachten, zu welchen tollen Ergebnissen ein naives, spontanes Herangehen führen kann.
Einer kurzen Pause, in der Marten alle entstandenen Sounds einsammelte und auf alle Arbeitsplätze verteilte, folgte der letzte Abschnitt des Workshops: Aus dem selbst gefüllten Samplepool, erweitert mit 14 Original-Samples aus Tratto, arrangierten die Teilnehmer*innen eigene kurze Werke. Dafür kam Audacity zum Einsatz. Die freie, Open-Source Software mag nicht besonders ansehnlich sein, aber unter der Oberfläche ist sie enorm wirkungsvoll und gerade für spontane, unkomplizierte Audiogestaltung sehr zu empfehlen. Während dieser zweiten Phase des Workshops haben wir immer versucht, die Nähe zu Zimmermanns künstlerisch-gestalterischen Arbeitsprozess aufrecht zu erhalten. Auch wenn unsere digitalen Werkzeuge sich grundsätztlich von den analogen Klangmaschinen, die Zimmermann zur Verfügung standen, unterscheiden, so bleibt der Weg zum fertigen Werk doch zumindest ähnlich. Vor allem war der Weg damals deutlich länger und mühsamer, was aus einer gestalterischen Perspektive sicherlich auch Vorteile hatte und mutmaßlich der Ästhetik zu Gute kam.
Zum Abschluss wurden die fertigen Stücke wie zu Beginn Tratto selbst in der Gruppe gehört und besprochen. Immer wieder war ich beeindruckt von der Qualität vieler Stücke und dem Interesse und Respekt, mit dem sie besprochen wurden. Doch an dieser Stelle sollen einige exemplarische Ergebnisse für sich selbst sprechen:
Im Nachhinein betrachtet ist für mich vor allem Bemerkenswert, dass es im Kern der Workshops nicht um elektronische Klangkunst ging. Vielmehr ging es darum, den Schüler*innen einen lebendigen, nachhaltigen Eindruck der musikwissenschaftlichen, editorischen Arbeit, wie sie an der Akademie der Wissenschaften stattfindet, zu geben. Die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Stück, das Kennenlernen der kulturhistorischen Zusammenhänge seiner Entstehung, die Einführung in die Grundlagen der Akustik, auch das kreative Gestalten der eigenen Sounds und Stücke: All das war ein Medium, um die Probleme zu verdeutlichen, vor dem die Wissenschaftler*innen der Akademie bei der editorischen Aufarbeitung der Vergangenheit stehen. Dieses etwas gewagte Konzept ist aufgegangen. Ich hatte durchweg den Eindruck, dass die Schüler*innen verstanden haben, worauf wir hinaus wollten.
Außerdem hatte der lange, etwas verschlungene Weg hin zum Ziel des Workshops den tollen Nebeneffekt, dass akademisches Arbeiten in unterschiedlichen Facetten und interdisziplinären Überschneidungen behandelt wurde. Die künstlerische Praxis, die naturwissenschaftlich-mathematische Herleitung, die geisteswissenschaftliche Interpretation und die technische Umsetzung, alles hat seine Relevanz im kulturellen Werden und Wirken eines Stücks wie “Tratto”. In diesem Sinne werden die Schüler*innen mit vielen Ideen nach Hause gegangen sein, wohin es nach der Schule gehen kann.