von Gisbert
Elektronische Musik, das kann Musik sein, die mit elektronischen Klängen gemacht wird. Spiele ich zum Beispiel auf der Tastatur eines Synthesizers eine Invention von J. S. Bach, dann ist das eine elektronische Version dieses ursprünglich akustischen Stückes Musik.
Neben der Klangerzeugung kann ich aber auch das Spielen der Töne von einem Gerät erledigen lassen, und zwar von einem sogenannten Sequenzer. An einem Sequenzer kann ich einstellen, wann welcher Ton erklingen soll, und das dann abspielen lassen.
Der „klassische“ Sechzehn-Step Sequenzer
Sequenzer gibt es heute in etlichen Versionen: Geräte, Software mit den unterschiedlichsten Benutzeroberflächen und Funktionen. Sehr verbreitet, ja, so verbreitet, dass man von einem „klassischen“ Sequenzer sprechen könnte, ist der Sequenzer mit 16 sogenannten Steps.
Mit einem klassischen Sequenzer kann ich eine Abfolge von sechzehn Tönen programmieren, z. B. so etwas:
Wenn ich verschiedene zeitliche Abstände zwischen den Tönen haben möchte, kann ich Töne ausschalten:
Dann habe ich aber noch nicht mal mehr sechzehn Töne zur Verfügung. Reicht das trotzdem? Warum sind so aufgebaute Sequenzer nicht längst verschwunden sondern werden immer noch verkauft? Warum orientieren sich auch viele Software-Sequenzer immer noch an so einem Aufbau?
Darauf gibt es viele Antworten.
Musik und Text
Die Geschichte europäischer Musiktradition ist verknüpft mit Texten. In der Kirchenmusik wurden z. B. Psalmen aus der Bibel vertont. Diese Musik war direkt verbunden mit Texten aus der als heiliges Buch verstandenen Bibel. So, wie die Worte dieser Texte schriftlich fixiert waren, wurden auch die Tonhöhen niedergeschrieben, zunächst mit sogenannten Neumen, schießlich mit der uns auch heute noch vertrauten Notenschrift.
Aus dieser Verbindung hat sich eine Musikkultur entwickelt, in der Musikmachen und das Lesen von Noten in einem engen Zusammenhang stehen. So heißt es im Englischen „Can you read music?“, wörtlich „Kannst Du Musik lesen?“ Musik und das Notenblatt werden gleichgesetzt.
Wenn man so an Musik herangeht, dann ergeben sich Erwartungen an Musik, die von Erwartungen an Texte herrühren. Wie ein Buch, so werden auch Noten von links nach rechts in von oben nach unten angeordneten Zeilen aufgeschrieben. Lese ich ein Buch, dann ist meine Erwartung, dass ich im fortschreitenden Prozess des Lesens neue Informationen erhalte: im Laufe eines Sachbuches lerne ich mehr über dessen Gegenstand, im Laufe eines Romans verfolge ich dessen Handlung und wechselnde Atmosphären. Folglich: schreitet ein Musikstück fort, soll es mehr und neue Informationen bieten.
Mit sechzehn Positionen, die ich entweder für Töne oder Pausen brauche, schaffe ich aber gerade eben die ersten zwei Takte von „Backe backe Kuchen“:
Um das Kinderlied komplett zu sequenzieren, bräuchte ich vier Sequenzer die jeweils nacheinander abspielen.
Fazit: für wie Text linear fortschreitende Musik fällt so ein klasssischer Sequenzer durch: 16 Töne sind zu wenig!
Ein Blick zurück
Schon lange vor dem Beginn elektronischer Musik gab es Mechanismen, um Musik zu machen. Vorläufer eines elektronischen Sequenzers sind mechanische Geräte wie Spieluhr, Drehorgel oder das selbst-spielende Klavier. Viele davon nutzten Techniken, die sich mit der Perspektive von Musik als Text in Verbindung bringen lassen, zum Beispiel die Drehorgel oder auch das Player Piano.
Die sogenannte Piano Roll des Player Pianos hat Ähnlichkeiten mit einer Schriftrolle. Statt Schriftzeichen geben Löcher im Papier an, welcher Klang zu welchem Zeitpunkt erklingen soll. Möchte ich ein längeres Musikstück mit mehr aufeinander folgenden Tönen: kein Problem, lässt sich mit einer längeren Papierrolle lösen.
Die Piano Roll und ihr perkussives Pendant, die Drum Roll sind auch heute noch übliche Oberflächen vieler Musiksoftware, direkt im Browser kann man zum Beispiel den Onlinesequencer ausprobieren:
Statt Löchern im Papier haben wir es nun mit Kästchen in einer gerasterten Oberfläche zu tun, auch ist die Leserichtung anders. Aber es ist deutlich, das die Grundprinzipien gleichgeblieben sind: Klänge werden durch übereinander angeordnete Zeichen markiert auf einer Fläche, die mit der Zeit immer weiter fortschreitet. (Mehr zu diversen Mechanismen in diesem schönen Video von Hainbach über das Musikinstrumenten-Museum in Markneukirchen.)
Wiederholung statt stets Neues
Ganz ähnlich verhält es sich auch bei der Spieluhr die oben zu sehen ist, aber mit einem ganz wesentlichen Unterschied: an die Stelle einer (theoretisch endlosen) Papierrolle bzw. Softwareoberfläche tritt hier die durch die Walze vorgegebene Schleife: ein kurzes Stück Musik, von der Länge einer Umdrehung wiederholt sich stets.
Auf so einer Spieluhr schrumpft die „Mondscheinsonate“ auf die ersten paar Takte zusammen, mehr passt nicht auf die Walze.
Es gibt durchaus auch Spieluhren, die mit Lochstreifenpapieren ähnlich der Piano Roll funktionieren und deutlich längere Musik spielen können. Aber Spieluhren mit Walze scheinen dadurch nicht verdrängt worden zu sein sondern werden auch weiterhin hergestellt. Ein Grund dafür ist, dass dass Verständnis von Musik als Text, mit dem stets weitere, neue Informationen vermittelt werden, nur teilweise zutrifft. Musik kann Formen annehmen, die ganz andere Funktionen erfüllen.
Eine Funktion von Spieluhren war und ist, zum Einschlafen von Kindern aufgezogen und abgespielt zu werden. Zum Einschlafen braucht es keine Musik, die stets neue Informationen liefert, sondern eher die Monotonie eines angenehmen Reizes. Eine kurze Dauer, wenige Töne, solche Begrenzungen werden in dieser Funktion zu Tugenden. Etwas Vertrautes wird wiederholt und unterstützt Entspannung und Gefühle von Geborgenheit. Viele Spieluhren nutzen zwar mehr Töne als die sechzehn des klassischen Sequenzers, aber es taucht hier eine Perspektive auf, dass ein Weniger an Informationen nicht zwingend in allen Zusammenhängen schlechter sein muss.
Betrachte ich Musik vor allem in Bezug zu Text und Information, dann ergeben sich spezifische Erwartungen an Aufführungssituationen:
Informationen fließen von Mitteilenden, also Musikerinnen, Komponistinnen, zu Zuhörenden. So wie auch eine Autorin für ihre Leser schreibt, oder ein Sprecher sich an ein Publikum wendet.
Es gibt aber eben viele viele ganz andere Situation des Musikmachens.
Wenn ein*e DJ im Genre Techno Musik auflegt, dann wollen die Tanzenden die Verlässlichkeit eines stetigen Beats. Die Gleichmäßigkeit des regelmäßigen Beat ermöglicht eine Freiheit der improvisierten Tanzbewegung. Das tanzende Publikum ist damit ziemlich aktiv am Geschehen beteiligt, kreiert selber laufend neue Informationen durch Bewegungsmuster. Die relative Monotonie des Rhythmus ist hier Voraussetzung und Rahmen für eine Vielzahl paralleler Aktivitäten.
Musik, die aus sich wiederholenden Schleifen (auch: Loops) aufgebaut ist hat eine lange Tradition und erfüllt viele weitere Funktionen neben der einlullenden Monotonie der Spieluhr oder der Verlässlichkeit regelmäßiger Beats in Tanzmusik-Genres.
An die Stelle der Idee eines fortschreitenden Textes eignet sich zum strukturellen Verständnis hier viel eher ein Denken in Zyklen anhand von Kreisdarstellungen. Online gibt es zum Beispiel die wunderbare Groovepizza, mit der man sich stets wiederholende Rhythmen eingeben kann.
Das Bild des Kreises macht deutlich: die Musik muss sich nicht zwingend „bewegen“ zu einem nächsten Kapitel. Das sich stets wiederholende Muster von Klängen kann einen verlässlichen Ansatzpunkt bieten, für Aktivitäten, die sich daran festmachen. Das kann Tanz sein, dass kann aber auch bedeuten, ausgehend von der Wiederholung musikalische Entwicklungen zu improvisieren. Und genau dabei, bei der Improvisation auf der Basis von Wiederholung, kommen die Stärken der eingangs angesprochenen klassischen Sequenzer mit sechzehn Steps zum Einsatz.
Improvisieren mit einem Sequenzer
Hier nun einige Beispiele für Improvisationen mit klassischen Sequenzern. Zunächst steht hier Wiederholung mit nur subtilen Veränderungen im Vordergrund:
Als nächstes eine sehr andere Herangehensweise: Fokus auf Improvisation, Veränderung und Überraschung:
Um selber mit solchen Sequenzen zu experimentieren muss man nicht unbedingt einen Sequenzer kaufen. Inzwischen ist der Aufbau dieser Geräte vielfach in Software nachvollzogen, auch ohne Installation, direkt zugänglich und kostenlos im Browser:
- Kinderleicht und übersichtlich: der Song-Maker im Musiclab von Chrome.
- Roland 50 Studio bietet eine ganze Reihe verschiedener Synthesizer und Drummachines.
Lust auf mehr?
Musik machen mit klassischen Sequenzern, dass kann man auch im Unterricht bei lev ausprobieren.
Auch interessant: meine Reihen „Einführung elektronische Musik“ und „Musiktheorie verstehen“ an der VHS Pankow. Der einfachste Weg, VHS-Kurse zu finden ist die Suche über den Namen des Dozenten, in meinem Fall: Gisbert Schürig