Musik als Tüftelei oder Performance – die Superbooth & der ESC (Eurovision Song Contest)

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von Gis­bert

Vom 16.-18. Mai fand in Ber­lin die größ­te euro­päi­sche Fach­mes­se für elek­tro­ni­sche Instru­men­te statt, Super­booth. Tau­sen­de Besucher*innen nut­zen die­se Gele­gen­heit um Instru­men­te aus­zu­pro­bie­ren, mit Hersteller*innen ins Gespräch zu kom­men und Kon­zer­ten zu lau­schen. Auch lev war betei­ligt, und zwar bei der ein Wochen­en­de vor­her statt­fin­den­den Mini­booth.

Am Sams­tag­abend, gegen Ende der Super­booth, begann eine wei­te­re Ver­an­stal­tung, die welt­weit von Mil­lio­nen Zuschau­ern gese­hen wird, der Euro­vi­si­on Song Con­test, abge­kürzt der ESC.

Die­se zeit­li­che Zusam­men­tref­fen war für mich eine Gele­gen­heit, Betrach­tun­gen zu sehr unter­schied­li­chen Her­an­ge­hens­wei­sen und Nut­zun­gen elek­tro­ni­scher Musik zu machen, die ich hier tei­len möchte.

Musik als Tüftelei – die Superbooth

Mit Rica und Piotr von lev habe ich den Sams­tag­nach­mit­tag auf der Super­booth ver­bracht. In weni­gen Stun­den konn­ten wir unmög­lich einen Über­blick bekom­men und haben uns auf eini­ge Ein­drü­cke beschränkt.

Einer die­ser Ein­drü­cke war der Auf­tritt von Oora auf der Seebühne:

Oora auf der See­büh­ne, Super­booth 2023

Mit­ten auf dem Platz des Bun­ga­low­dor­fes spiel­te „Dubo­nar­ri­val“, so dass man ihm bei sei­nem Auf­tritt gut über die Schul­ter bli­cken konnte:

dubo­nar­ri­val im Bun­ga­low­dorf, Super­booth 2023

Bei­de Her­ren haben einen ähn­li­chen Ges­tus beim musi­zie­ren, kon­zen­triert, leicht nach vorn gebeugt, geschäf­tig aber auch bedacht an Knöp­fen dre­hend. Die Auf­merk­sam­keit ist kom­plett den Gerä­ten zuge­wen­det: Syn­the­si­zern, Sequen­cern, Drum­com­pu­tern und Effekten. 

Ich fin­de das bemer­kens­wert: da per­formt jemand, her­vor­ge­ho­ben auf einer Büh­ne bzw. in der Mit­te eines Plat­zes, aber die Auf­merk­sam­keit, die das mit sich bringt schlägt sich nicht sicht­bar in der Per­for­mance nie­der. Im Zen­trum steht statt des­sen die nicht sicht­ba­re, aber deut­lich hör­ba­re Musik. Die kör­per­li­che Prä­senz und die Bewe­gun­gen die­ser bei­den Musi­ker ste­hen nicht für sich, son­dern sind sozu­sa­gen Begleit­erschei­nung der geis­ti­gen Tätig­keit des Musik­ma­chens. Musik machen als Per­for­mance von Tüftelei.

So ein kör­per­li­cher Aus­druck geis­ti­ger Pro­zes­se ist nichts Neu­es, fin­det sich auch in der Kunst­ge­schich­te. Als ein Bei­spiel hier die Skul­pur „Der Den­ker“ von Augus­te Rodin. Den könn­te man sich gut vor­stel­len, wie er sich, über ein Misch­pult gebeugt, fragt ob er der Bass-Spur noch etwas Ver­zer­rung, Kom­pres­si­on, oder viel­leicht auch bei­des hin­zu­fü­gen sollte.

Der Den­ker, Skulp­tur von Augus­te Rodin Cris­NY­Ca, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wiki­me­dia Commons

Neben den Kör­pern der Musi­ker sind auch all die Gerä­te, die auf der Super­booth aus­ge­stellt wer­den, sicht­ba­rer Aus­druck von Gedan­ken, strom­kreis-gewor­de­ne Ideen. Vie­les davon begeis­tert mich, denn: ein gut aus­ge­dach­tes Werk­zeug gibt mir Gestal­tungs­mög­lich­kei­ten, die ich vor­her viel­leicht noch gar nicht im Sinn hat­te oder die ich nun viel bes­ser umset­zen kann.

Mal eben unter­wegs das Stück fer­tig machen? Kein Pro­blem mit einem akku­be­trie­be­nen mobi­len Tracker:

Poly­end mini

Logik­gat­ter für Rhyth­men in Musik­soft­ware anwen­den? Klar, ste­hen im Grid von Bit­wig direkt zur Ver­fü­gung! Viel­leicht soll­te ich doch von Able­ton live wechseln?

Bit­wig Grid Musiksoftware
Logik­gat­ter in Bit­wig Grid

Auch ist es toll, Gele­gen­heit zu haben, Gerä­te aus­zu­pro­bie­ren, die ihrer Zeit weit vor­aus waren und revo­lu­tio­nä­re neue Ideen in die Welt gebracht haben. Sozu­sa­gen Musik- und Tech­nik­ge­schich­te zum Anfas­sen. Hier Kol­le­gin Rica beim explo­rie­ren von Mög­lich­kei­ten mit einer Neu­auf­la­ge des Music Easel von Buchla:

Aber ich wun­de­re mich auch, wie sehr und wie aus­schließ­lich die Ideen im Mit­tel­punkt ste­hen. In Form von Gerä­ten, in Form von Klang und Musik. Die Musik von „dubo­nar­ri­val“ war wun­der­bar groo­vi­ger, abso­lut tanz­ba­rer Dub. Da hät­te ich Stun­den zu durch­tan­zen kön­nen, aber: außer mir schien das nur ein ande­rer Tän­zer so zu sehen. An allen ande­ren Büh­nen sah das ganz genau­so aus. Per­for­mance von Kör­per­lich­keit durch Tanz­be­we­gun­gen: Fehlanzeige.

Nach stun­den­lan­gem Schau­en, Hören und Aus­pro­bie­ren geht es dann schließ­lich nach Hau­se, vor den Com­pu­ter­mo­ni­tor um das Spek­ta­kel des Euro­vi­si­on Song Con­test zu verfolgen.

Musik als Performance – der Eurovision Song Contest

Da sind sie nun, die Kör­per, der Tanz, die expres­si­ve Emo­tio­na­li­tät. Es wird auf Tram­po­li­nen gesprun­gen und gerannt:

Tram­po­li­ne im Ein­satz bei Mar­co Men­go­ni beim Euro­vi­si­on Song Contest
Kää­ri­jä rennt beim ESC über die Bühne

Mehr­fach wird gele­gen, z. B. auch beim Bei­trag von Loreen, der schließ­lich auf den ers­ten Platz gewählt wird. Arme wer­den weit aus­ge­streckt, vir­tuo­se Tän­ze auf­ge­führt, hier ist sie also, bewuss­te, expres­siv zur Schau gestell­te Kör­per­lich­keit die ich auf der Super­booth nicht fin­den konnte.

Was aller­dings weit­ge­hend auf der Büh­ne fehlt, sind die tech­ni­schen Gerä­te, die auf der Mes­se all­ge­gen­wär­tig waren. Gele­gent­lich sind Musik­in­stru­men­te zu sehen, aber die Stim­men, Gesich­ter, Kör­per und Kos­tü­me der Per­for­mer ste­hen im Vor­der­grund der Insze­nie­run­gen. Ist es über­haupt sinn­voll, die­se bei­den Ver­an­stal­tun­gen in Bezie­hung zu set­zen und ihre Per­for­man­ces zu ver­glei­chen? Ich wür­de sagen, ja. Gera­de die Unter­schied­lich­keit zeigt das brei­te Spek­trum des­sen, was wir elek­tro­ni­sche Musik nennen.

ESC und Technik

Der Euro­vi­si­on Song Con­test wür­de 1956 ins Leben geru­fen. Die damals geläu­fi­ge Pra­xis um die Songs auf­zu­füh­ren, sah so aus: für die instru­men­ta­le Beglei­tung war jeweils ein loka­les Orches­ter zustän­dig, das im Vor­feld alle Stü­cke ein­stu­diert hat­te und wäh­rend der Sen­dung für alle Sänger*innen spielte.

Gesang beglei­tet mit Orches­ter: Lys Assia beim ers­ten Euro­vi­si­on Song Con­test 1956

Die Idee eines inter­na­tio­na­len Lie­der­wett­be­werbs ent­stand als ein Expe­ri­ment inter­na­tio­na­ler Fern­seh­über­tra­gung der Euro­pean Broad­cas­ting Uni­on (EBU). Von vorn­her­ein gehör­te also die elek­tro­ni­sche Auf­zeich­nung und Über­tra­gung von Klang und Bild zum Pro­fil des ESC. Mit den elek­tro­ni­schen Mit­teln konn­ten die akus­ti­schen Klän­ge von Sänger*innen und Orches­ter gleich­zei­tig in vie­len Län­dern gehört werden. 

Mit der Zeit setz­ten sich bei der Instru­men­tie­rung von Pop­mu­sik immer mehr Instru­men­te durch, die nicht Teil eines klas­si­schen Orches­ters waren. Elek­tri­sche oder elek­tro­akus­ti­sche Instru­men­te, wie zum Bei­spiel E-Gitar­re und E-Bass wur­den im Vor­feld auf­ge­nom­men, und wäh­rend des Auf­trit­tes als Play­back abgespielt.

Cliff Richard beim ESC 1973 mit „Power to all our fri­ends“, der ers­te ESC-Bei­trag mit Playback-Einspielung

Im Video zu „Power to all our fri­ends“ ist so eine Mischung aus Live gespiel­ten Instru­men­ten und „So-tun-als-ob“ zum Play­back schön zu beob­ach­ten: E-Gitar­re und Bass sind nicht ver­ka­belt, die Gitar­re klingt mal akus­tisch, mal elek­trisch, man hört Schlag­zeug, aber sieht, dass der Schlag­zeu­ger des Orches­ters im Hin­ter­grund nicht spielt.

Im Lau­fe der Jah­re hat sich das Play­back beim ESC schließ­lich gegen­über der Orches­ter­be­glei­tung durch­ge­setzt, seit 1999 wird nur noch zu Play­back gesun­gen. Die Instru­men­te, mit denen die Musik, die zu hören ist, gemacht wur­de, sind nur in weni­gen Aus­nah­me­fäl­len zu sehen, die Mate­ria­li­tät des Musik­ma­chens verschwindet.

Sichtbare und unsichtbare Instrumente und Musiker*innen

Die­ses Ver­schwin­den der Instru­men­te beim ESC geht mit dem Ver­schwin­den spe­zi­fi­scher Werk­zeu­ge und Gerä­te im all­ge­mei­nen ein­her. Durch die Ver­brei­tung von Com­pu­tern, also nicht-spe­zi­fi­schen All­zweck­werk­zeu­gen wer­den vie­le spe­zi­el­le Instru­men­te über­flüs­sig oder zu einem sel­te­nen Luxus. Anstatt eines Buch­la Music Easel für vie­le tau­send Euro kann ich mit dem kos­ten­lo­sen VCV-Rack mei­ne Freu­de an syn­the­ti­schem Klang ausleben.

Ein All­zweck­werk­zeug wie ein Com­pu­ter oder ein Smart­phone sind aber nicht in der glei­chen Wei­se Form gewor­de­ne Idee wie z. B. ein Syn­the­si­zer. Ein Syn­the­si­zer ist dar­auf spe­zia­li­siert, Klän­ge zu erzeu­gen, ein Com­pu­ter kann unüber­schau­bar vie­le Funk­tio­nen erfül­len. Auf der Super­booth spü­re ich eine Begeis­te­rung dafür, Ideen zu rea­li­sie­ren, sicht­bar, hör­bar und greif­bar zu machen, mit Syn­the­si­zern, Sequen­cern und vie­len wei­te­ren Modu­len und durch­aus auch in Software.

Beim Betrach­ten des Euro­vi­si­on Song Con­test sehe ich den Wil­len, die aktu­el­len tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten für elek­tro­ni­sche Musik und vor allem auch für die Büh­nen­show so weit wie mög­lich aus­zu­schöp­fen: alle zur Ver­fü­gung ste­hen­den Regis­ter zu zie­hen um zu beein­dru­cken, emo­tio­nal zu berüh­ren und mitzureißen.

So unter­schied­lich die­se bei­den Zugän­ge sein mögen, es fin­den sich auch Überschneidungen:

Play­er Pia­no als Hin­gu­cker bei Ali­ka beim ESC 2023

Ein Kla­vier bzw. Flü­gel auf der Büh­ne, der wie von Geis­ter­hand eine Melo­die spielt. Ich ver­mu­te es han­delt sich um ein Yama­ha Dis­kla­vier. Das lässt sich per Midi spie­len und so genau mit dem Play­back syn­chro­ni­sie­ren. In der Regel wer­den Musik­in­stru­men­te bei Play­back-Auf­trit­ten für eine Art nai­ven Rea­lis­mus genutzt: durch feh­len­de Kabel und Mikro­fo­ne wird zwar sicht­bar, dass der Klang nicht wirk­lich vom Instru­ment aus­geht, aber den­noch wird der Anschein des Spie­lens auf­recht erhal­ten. Die­ser Anschein wird auch hier durch die Syn­chro­ni­zi­tät von Play­back-Klang und Tas­ten­be­we­gun­gen auf­recht erhal­ten. Das die Tas­ten sich aber auto­ma­tisch bewe­gen bil­det einen effek­ti­ven Kon­trast zur Prä­senz der Sän­ge­rin, das Geis­ter­haf­te des Kla­viers unter­streicht ihre Prä­senz und Menschlichkeit.

You­tuber und Musi­ker Hain­bach ver­wen­det so ein midi­fi­zier­tes Kla­vier hier für klang­li­che Experimente:

Hain­bachs Expe­ri­men­te mit dem Disklavier

Sichtbarkeit Elektronischer Musik in der Musikpädagogik

Das ver­schwun­de­ne Kla­vier, das schon lan­ge nicht mehr klang­lich benö­tigt wird und dann als geis­ter­haf­ter Büh­nen­ef­fekt ohne Spieler*in wie­der auf­taucht: die­ses Bild löst bei mir musik­päd­ago­gi­sche Asso­zia­tio­nen aus, reso­niert mit Fra­gen, die mich schon eine Wei­le beschäftigen.

Eine mei­ner Erfah­run­gen aus meh­re­ren Jahr­zehn­ten Musik­un­ter­richt ist die­se: Men­schen wol­len etwas ler­nen im Musik­un­ter­richt, und zwar etwas, was sie gese­hen oder gehört haben. Die Instru­men­te und die Arbeit, die es benö­tigt hat, um die Play­backs für den ESC 2023 zu erstel­len, sind nicht zu sehen, nur die Ergeb­nis­se sind zu hören. Wie die ent­stan­den sein mögen, bleibt unklar. Da hat Sound­de­sign an Syn­the­si­zern eine Rol­le gespielt, das Pro­gram­mie­ren oder Ein­spie­len von Beats, an Schlag­zeug, Drum­ma­chi­ne oder Com­pu­ter und vie­les mehr. Unse­re aktu­el­le Musik­kul­tur ist geprägt vom Arbei­ten mit elek­tro­ni­schen Musik­in­stru­men­ten und Gerä­ten. Die­se Instru­men­te wer­den heiß geliebt und die­se Kul­tur wird inten­siv gepflegt von den vie­len, die auf eine Mes­se wie die Super­booth gehen. Für viel mehr Men­schen aber ver­schwin­den die Akti­vi­tä­ten des Musik­ma­chens aus dem Blick­feld, unsicht­bar wie der kla­vier­spie­len­de Geist des ESC.

Es wäre die Auf­ga­be von Schu­len und Musik­schu­len, die­se Ände­run­gen in der Musik­pra­xis mit­zu­ge­hen, zu beglei­ten und Inter­es­sier­ten Zugän­ge zu ver­schaf­fen. Zu erschlie­ßen, wie sie Musik, die sie hören und schät­zen, sel­ber umset­zen kön­nen. Bei lev-berlin.de set­zen wir genau da an: Wege zu ver­mit­teln, Musik mit aktu­el­len, elek­tro­ni­schen Mit­teln zu machen. Wir ste­hen mit unse­rer Arbeit aber auch im Kon­text der gesam­ten Bil­dungs und Medi­en­land­schaft: wenn im Musik­un­ter­richt in der Schu­le nicht von Syn­the­si­zern und Musik­soft­ware die Rede ist, wenn sie in Musik­shows nicht sicht­bar wer­den, dann bleibt unklar, dass das etwas ist, was man ler­nen wol­len könn­te: elek­tro­ni­sche Musik machen. In der Sta­tis­tik des Deut­schen Musik Infor­ma­ti­ons­zen­trums zu Unter­richts­fä­chern an Musik­schu­len des Ver­band deut­scher Musik­schu­len (VdM), Stand 2022, tau­chen mit Key­board, E-Gitar­re und E-Bass zwar eini­ge weni­ge Instru­men­te auf, die elek­tro­nisch bzw. elek­tro­akus­tisch funk­tio­nie­ren. Musik­ma­chen mit Syn­the­si­zern und Soft­ware, essen­ti­ell für aktu­el­le Musik­pra­xis, wird aber über­haupt nicht erwähnt. Es bleibt noch viel zu tun.

Da freue ich mich natür­lich sehr, dass die Super­booth von Jahr zu Jahr zu wächst, dass mit der Mini­booth und ande­ren Ange­bo­ten Einsteiger*innen ange­spro­chen wer­den und so Sicht­bar­keit her­ge­stellt wird für das Tüf­teln und Wer­keln an elek­tro­ni­schen Instru­men­ten, das sonst hin­ter den Kulis­sen ver­schwin­det. Und wer weiß, viel­leicht bricht schon auf der nächs­ten Super­booth das Tanz­fie­ber aus, denn Tüf­teln und Tan­zen muss sich nicht aus­schlie­ßen. Und auch wenn beim ESC wäh­rend des Wett­be­werbs die Instru­men­te nur eine Rand­er­schei­nung sind, in die­sem Video des Sie­ger­ti­tels fül­len sie den gan­zen Raum: Loreen mit „Tat­too“ und vie­len, vie­len Synthesizern.

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