von Gisbert
Vom 16.-18. Mai fand in Berlin die größte europäische Fachmesse für elektronische Instrumente statt, Superbooth. Tausende Besucher*innen nutzen diese Gelegenheit um Instrumente auszuprobieren, mit Hersteller*innen ins Gespräch zu kommen und Konzerten zu lauschen. Auch lev war beteiligt, und zwar bei der ein Wochenende vorher stattfindenden Minibooth.
Am Samstagabend, gegen Ende der Superbooth, begann eine weitere Veranstaltung, die weltweit von Millionen Zuschauern gesehen wird, der Eurovision Song Contest, abgekürzt der ESC.
Diese zeitliche Zusammentreffen war für mich eine Gelegenheit, Betrachtungen zu sehr unterschiedlichen Herangehensweisen und Nutzungen elektronischer Musik zu machen, die ich hier teilen möchte.
Musik als Tüftelei – die Superbooth
Mit Rica und Piotr von lev habe ich den Samstagnachmittag auf der Superbooth verbracht. In wenigen Stunden konnten wir unmöglich einen Überblick bekommen und haben uns auf einige Eindrücke beschränkt.
Einer dieser Eindrücke war der Auftritt von Oora auf der Seebühne:
Mitten auf dem Platz des Bungalowdorfes spielte „Dubonarrival“, so dass man ihm bei seinem Auftritt gut über die Schulter blicken konnte:
Beide Herren haben einen ähnlichen Gestus beim musizieren, konzentriert, leicht nach vorn gebeugt, geschäftig aber auch bedacht an Knöpfen drehend. Die Aufmerksamkeit ist komplett den Geräten zugewendet: Synthesizern, Sequencern, Drumcomputern und Effekten.
Ich finde das bemerkenswert: da performt jemand, hervorgehoben auf einer Bühne bzw. in der Mitte eines Platzes, aber die Aufmerksamkeit, die das mit sich bringt schlägt sich nicht sichtbar in der Performance nieder. Im Zentrum steht statt dessen die nicht sichtbare, aber deutlich hörbare Musik. Die körperliche Präsenz und die Bewegungen dieser beiden Musiker stehen nicht für sich, sondern sind sozusagen Begleiterscheinung der geistigen Tätigkeit des Musikmachens. Musik machen als Performance von Tüftelei.
So ein körperlicher Ausdruck geistiger Prozesse ist nichts Neues, findet sich auch in der Kunstgeschichte. Als ein Beispiel hier die Skulpur „Der Denker“ von Auguste Rodin. Den könnte man sich gut vorstellen, wie er sich, über ein Mischpult gebeugt, fragt ob er der Bass-Spur noch etwas Verzerrung, Kompression, oder vielleicht auch beides hinzufügen sollte.

Neben den Körpern der Musiker sind auch all die Geräte, die auf der Superbooth ausgestellt werden, sichtbarer Ausdruck von Gedanken, stromkreis-gewordene Ideen. Vieles davon begeistert mich, denn: ein gut ausgedachtes Werkzeug gibt mir Gestaltungsmöglichkeiten, die ich vorher vielleicht noch gar nicht im Sinn hatte oder die ich nun viel besser umsetzen kann.
Mal eben unterwegs das Stück fertig machen? Kein Problem mit einem akkubetriebenen mobilen Tracker:

Logikgatter für Rhythmen in Musiksoftware anwenden? Klar, stehen im Grid von Bitwig direkt zur Verfügung! Vielleicht sollte ich doch von Ableton live wechseln?


Auch ist es toll, Gelegenheit zu haben, Geräte auszuprobieren, die ihrer Zeit weit voraus waren und revolutionäre neue Ideen in die Welt gebracht haben. Sozusagen Musik- und Technikgeschichte zum Anfassen. Hier Kollegin Rica beim explorieren von Möglichkeiten mit einer Neuauflage des Music Easel von Buchla:
Aber ich wundere mich auch, wie sehr und wie ausschließlich die Ideen im Mittelpunkt stehen. In Form von Geräten, in Form von Klang und Musik. Die Musik von „dubonarrival“ war wunderbar grooviger, absolut tanzbarer Dub. Da hätte ich Stunden zu durchtanzen können, aber: außer mir schien das nur ein anderer Tänzer so zu sehen. An allen anderen Bühnen sah das ganz genauso aus. Performance von Körperlichkeit durch Tanzbewegungen: Fehlanzeige.
Nach stundenlangem Schauen, Hören und Ausprobieren geht es dann schließlich nach Hause, vor den Computermonitor um das Spektakel des Eurovision Song Contest zu verfolgen.
Musik als Performance – der Eurovision Song Contest
Da sind sie nun, die Körper, der Tanz, die expressive Emotionalität. Es wird auf Trampolinen gesprungen und gerannt:
Mehrfach wird gelegen, z. B. auch beim Beitrag von Loreen, der schließlich auf den ersten Platz gewählt wird. Arme werden weit ausgestreckt, virtuose Tänze aufgeführt, hier ist sie also, bewusste, expressiv zur Schau gestellte Körperlichkeit die ich auf der Superbooth nicht finden konnte.
Was allerdings weitgehend auf der Bühne fehlt, sind die technischen Geräte, die auf der Messe allgegenwärtig waren. Gelegentlich sind Musikinstrumente zu sehen, aber die Stimmen, Gesichter, Körper und Kostüme der Performer stehen im Vordergrund der Inszenierungen. Ist es überhaupt sinnvoll, diese beiden Veranstaltungen in Beziehung zu setzen und ihre Performances zu vergleichen? Ich würde sagen, ja. Gerade die Unterschiedlichkeit zeigt das breite Spektrum dessen, was wir elektronische Musik nennen.
ESC und Technik
Der Eurovision Song Contest würde 1956 ins Leben gerufen. Die damals geläufige Praxis um die Songs aufzuführen, sah so aus: für die instrumentale Begleitung war jeweils ein lokales Orchester zuständig, das im Vorfeld alle Stücke einstudiert hatte und während der Sendung für alle Sänger*innen spielte.
Die Idee eines internationalen Liederwettbewerbs entstand als ein Experiment internationaler Fernsehübertragung der European Broadcasting Union (EBU). Von vornherein gehörte also die elektronische Aufzeichnung und Übertragung von Klang und Bild zum Profil des ESC. Mit den elektronischen Mitteln konnten die akustischen Klänge von Sänger*innen und Orchester gleichzeitig in vielen Ländern gehört werden.
Mit der Zeit setzten sich bei der Instrumentierung von Popmusik immer mehr Instrumente durch, die nicht Teil eines klassischen Orchesters waren. Elektrische oder elektroakustische Instrumente, wie zum Beispiel E-Gitarre und E-Bass wurden im Vorfeld aufgenommen, und während des Auftrittes als Playback abgespielt.
Im Video zu „Power to all our friends“ ist so eine Mischung aus Live gespielten Instrumenten und „So-tun-als-ob“ zum Playback schön zu beobachten: E-Gitarre und Bass sind nicht verkabelt, die Gitarre klingt mal akustisch, mal elektrisch, man hört Schlagzeug, aber sieht, dass der Schlagzeuger des Orchesters im Hintergrund nicht spielt.
Im Laufe der Jahre hat sich das Playback beim ESC schließlich gegenüber der Orchesterbegleitung durchgesetzt, seit 1999 wird nur noch zu Playback gesungen. Die Instrumente, mit denen die Musik, die zu hören ist, gemacht wurde, sind nur in wenigen Ausnahmefällen zu sehen, die Materialität des Musikmachens verschwindet.
Sichtbare und unsichtbare Instrumente und Musiker*innen
Dieses Verschwinden der Instrumente beim ESC geht mit dem Verschwinden spezifischer Werkzeuge und Geräte im allgemeinen einher. Durch die Verbreitung von Computern, also nicht-spezifischen Allzweckwerkzeugen werden viele spezielle Instrumente überflüssig oder zu einem seltenen Luxus. Anstatt eines Buchla Music Easel für viele tausend Euro kann ich mit dem kostenlosen VCV-Rack meine Freude an synthetischem Klang ausleben.
Ein Allzweckwerkzeug wie ein Computer oder ein Smartphone sind aber nicht in der gleichen Weise Form gewordene Idee wie z. B. ein Synthesizer. Ein Synthesizer ist darauf spezialisiert, Klänge zu erzeugen, ein Computer kann unüberschaubar viele Funktionen erfüllen. Auf der Superbooth spüre ich eine Begeisterung dafür, Ideen zu realisieren, sichtbar, hörbar und greifbar zu machen, mit Synthesizern, Sequencern und vielen weiteren Modulen und durchaus auch in Software.
Beim Betrachten des Eurovision Song Contest sehe ich den Willen, die aktuellen technischen Möglichkeiten für elektronische Musik und vor allem auch für die Bühnenshow so weit wie möglich auszuschöpfen: alle zur Verfügung stehenden Register zu ziehen um zu beeindrucken, emotional zu berühren und mitzureißen.
So unterschiedlich diese beiden Zugänge sein mögen, es finden sich auch Überschneidungen:
Ein Klavier bzw. Flügel auf der Bühne, der wie von Geisterhand eine Melodie spielt. Ich vermute es handelt sich um ein Yamaha Disklavier. Das lässt sich per Midi spielen und so genau mit dem Playback synchronisieren. In der Regel werden Musikinstrumente bei Playback-Auftritten für eine Art naiven Realismus genutzt: durch fehlende Kabel und Mikrofone wird zwar sichtbar, dass der Klang nicht wirklich vom Instrument ausgeht, aber dennoch wird der Anschein des Spielens aufrecht erhalten. Dieser Anschein wird auch hier durch die Synchronizität von Playback-Klang und Tastenbewegungen aufrecht erhalten. Das die Tasten sich aber automatisch bewegen bildet einen effektiven Kontrast zur Präsenz der Sängerin, das Geisterhafte des Klaviers unterstreicht ihre Präsenz und Menschlichkeit.
Youtuber und Musiker Hainbach verwendet so ein midifiziertes Klavier hier für klangliche Experimente:
Sichtbarkeit Elektronischer Musik in der Musikpädagogik
Das verschwundene Klavier, das schon lange nicht mehr klanglich benötigt wird und dann als geisterhafter Bühneneffekt ohne Spieler*in wieder auftaucht: dieses Bild löst bei mir musikpädagogische Assoziationen aus, resoniert mit Fragen, die mich schon eine Weile beschäftigen.
Eine meiner Erfahrungen aus mehreren Jahrzehnten Musikunterricht ist diese: Menschen wollen etwas lernen im Musikunterricht, und zwar etwas, was sie gesehen oder gehört haben. Die Instrumente und die Arbeit, die es benötigt hat, um die Playbacks für den ESC 2023 zu erstellen, sind nicht zu sehen, nur die Ergebnisse sind zu hören. Wie die entstanden sein mögen, bleibt unklar. Da hat Sounddesign an Synthesizern eine Rolle gespielt, das Programmieren oder Einspielen von Beats, an Schlagzeug, Drummachine oder Computer und vieles mehr. Unsere aktuelle Musikkultur ist geprägt vom Arbeiten mit elektronischen Musikinstrumenten und Geräten. Diese Instrumente werden heiß geliebt und diese Kultur wird intensiv gepflegt von den vielen, die auf eine Messe wie die Superbooth gehen. Für viel mehr Menschen aber verschwinden die Aktivitäten des Musikmachens aus dem Blickfeld, unsichtbar wie der klavierspielende Geist des ESC.
Es wäre die Aufgabe von Schulen und Musikschulen, diese Änderungen in der Musikpraxis mitzugehen, zu begleiten und Interessierten Zugänge zu verschaffen. Zu erschließen, wie sie Musik, die sie hören und schätzen, selber umsetzen können. Bei lev-berlin.de setzen wir genau da an: Wege zu vermitteln, Musik mit aktuellen, elektronischen Mitteln zu machen. Wir stehen mit unserer Arbeit aber auch im Kontext der gesamten Bildungs und Medienlandschaft: wenn im Musikunterricht in der Schule nicht von Synthesizern und Musiksoftware die Rede ist, wenn sie in Musikshows nicht sichtbar werden, dann bleibt unklar, dass das etwas ist, was man lernen wollen könnte: elektronische Musik machen. In der Statistik des Deutschen Musik Informationszentrums zu Unterrichtsfächern an Musikschulen des Verband deutscher Musikschulen (VdM), Stand 2022, tauchen mit Keyboard, E-Gitarre und E-Bass zwar einige wenige Instrumente auf, die elektronisch bzw. elektroakustisch funktionieren. Musikmachen mit Synthesizern und Software, essentiell für aktuelle Musikpraxis, wird aber überhaupt nicht erwähnt. Es bleibt noch viel zu tun.
Da freue ich mich natürlich sehr, dass die Superbooth von Jahr zu Jahr zu wächst, dass mit der Minibooth und anderen Angeboten Einsteiger*innen angesprochen werden und so Sichtbarkeit hergestellt wird für das Tüfteln und Werkeln an elektronischen Instrumenten, das sonst hinter den Kulissen verschwindet. Und wer weiß, vielleicht bricht schon auf der nächsten Superbooth das Tanzfieber aus, denn Tüfteln und Tanzen muss sich nicht ausschließen. Und auch wenn beim ESC während des Wettbewerbs die Instrumente nur eine Randerscheinung sind, in diesem Video des Siegertitels füllen sie den ganzen Raum: Loreen mit „Tattoo“ und vielen, vielen Synthesizern.