von Gisbert
Elektronische Instrumente haben der Musik nicht nur neue Klänge gebracht, sondern haben auch ganz neue Arten ermöglicht, Musik zu machen:
Klänge Malen mit Musikapps, Melodien einstellen statt zu spielen mit Sequencern, Musik aus aufgenommenen Klängen collagieren mit Smartphones oder Kassettenrecordern.
Dadurch sind neue Möglichkeiten, Musik zu machen und Musik zu verstehen, hinzugekommen, aber ältere Herangehensweisen sind dadurch nicht verschwunden. Auch in 2023 üben Menschen, um ein Musikinstrument zu beherrschen, obwohl man die entsprechenden Tonfolgen auch zum Beispiel von einem Computerprogramm abspielen lassen könnte. Das eine fühlt sich ganz anders an als das andere und das „wie“ ist eben wesentlich bei Kunst und Musik. So wie physisch zu spielende Instrumente weiter mit Freude gespielt werden, sind auch viele Formen, Musik zu komponieren, die seit Jahrhunderten praktiziert werden ungebrochen aktuell. Mit Synthesizern generativ Klänge und Geräusche zu erzeugen ist faszinierend. Aber Melodien mit Akkorden zu begleiten, wie das z. B. Jean-Philippe Rameau im 18. Jahrhundert gemacht hat, ist auch heute noch viel weiter verbreitet.
Neue Klänge als Nebenprodukt von Imitation
Neben technischen Innovationen und dem Erschließen neuer Möglichkeiten hat es in der Geschichte der Elektronischen Musik immer wieder auch eine große Rolle gespielt, Vertrautes nicht etwa durch Neues zu ersetzen, sondern mit neuen Mitteln weiterzuführen. Immer noch weit verbreitet: das E-Piano. Dieser Begriff bezeichnet eine ganze Palette verschiedener elektroakustischer und elektrischer Instrumententypen, die aber allesamt darauf ausgerichtet sind, den Klang eines akustischen Klaviers bzw. Flügels zu imitieren. Inzwischen ist diese Imitation auf der Basis digitaler Samples täuschend echt. Viele ältere Modelle haben gerade dadurch, dass sie keine perfekte Imitation schaffen, neue Klangfarben in die Welt gebracht, die auch weiterhin wertgeschätzt werden.
Vergleichbar sind auch sogenannte String-Synthesizer, die darauf spezialisiert waren, die Streicher eines Orchesters nachzuahmen. Das gelang lange nicht wirklich überzeugend, aber diese Klänge sind uns heute als klassische Synthesizer-Sounds vertraut.
Alte Musik mit neuen Klängen
Nicht nur bei den Klängen, auch bei den musikalischen Formen gab und gibt es Musiker*innen, die mit elektronischen Mitteln Musik machen, die ursrpünglich für akustische Instrumente gedacht waren. Ein Klassiker dieser Kombination ist das Album Switched-on Bach der amerikanischen Komponistin Wendy Carlos.
In den 70er Jahren hat das damals neue Instrumentarium für Staunen gesorgt, hier eine Demonstration im Konzertsaal, moderiert vom Dirigenten Leonard Bernstein:
Aber auch heute wird dieser Ansatz noch gepflegt, LOOK MUM NO COMPUTER präsentiert auf seinem Youtube-Kanal eine ganze Reihe von Werken Klassischer Musik gespielt mit seinem selbstgebauten Modularsynthesizer. Hier die „Mondscheinsonate“ von Ludwig van Beethoven:
Und während bei LOOK MUM NO COMPUTER alles im Vorfeld sequenziert ist und dann für die Aufnahme abläuft, finden sich auch Musiker*innen, die Bach´s Musik auf Synthesizern live spielen, wie z.B. hier das Quartett „Art of Moog“:
Imitation als künstlerische Strategie
Man kann diese Musikbeispiele kurios finden und die Frage stellen, ob die neue Instrumentierung die jeweilligen Kompositionen bereichert oder schmälert. Aber in ihrer Hinwendung sowohl zur Geschichte und Tradition als auch zu neuen technischen Möglichkeiten sind sie faszinierende Zeugnisse musikalischer Praxis im technologischen Wandel.
Das bewusste Anknüpfen an traditionelle musikalische Elemente bringt uns in Verbindung mit einer riesigen Fülle von Formen musikalischen Ausdrucks. Hier zwei Beispiele dazu aus meiner Praxis als Musiker und Musikvermittler.
Auf der Suche nach der richtigen Form von Spannung
Ich habe diesen Sommer an einem Kompositionsauftrag für eine Luftartistik-Show gearbeitet: Skydance von Jana Korb und Sylvia Idelberger, aufgeführt beim Festival Encore! in Saarbrücken im August 2023. Anhaltspunkte für die Kompositionsarbeit waren Zeitangaben: zwanzig Minuten insgesamt, darin Musikstücke mit bestimmten Stimmungen für je fünf Minuten. Die Aufführung würde Open Air stattfinden, also ohne den schützenden Fokus und Konzentration schaffenden Rahmen eines Theaterraumes oder Konzertsaales, daher war mir klar: meine Musik muss diesen konzentrierten Raum schaffen, indem sie die entsprechenden Stimmungen deutlich und verständlich etabliert. Der Rückgriff auf leicht und direkt verständliche Formen musikalischen Ausdrucks lag also nah.
Drei von vier Fünfminütern waren fertig, aber die vierte Komposition machte mir Schwierigkeiten. Angefragt war „Spannung“. Dazu kamen mir zunächst filmische Assoziationen in den Sinn: Spannung gibt es in Action- und Horrorfilmen, nicht selten unterlegt mit typischen musikalischen Formeln, z. B. treibende Rhythmen für Action und dissonant, reibende Klänge für Horror. Beides erschien mir nicht angemessen und im Zusammenhang als zu plakativ und zu bedrohlich. Es waren ja keine Verfolgungsjagden oder Monster in der Luft geplant, sondern Tanz und Akrobatik.
Der Abgabetermin rückte näher und diverse kompositorische Skizzen, erstellt in Ableton live am Computer, trafen nicht den richtigen Ton. Schließlich kam beim eher ziellosen Probieren auf der akustischen Gitarre die Idee: der argentinische Tango, insbesondere der von Astor Piazolla begründete Tango Nuevo, ein Tanz und Musikstil, bei denen stets eine leichte, zurückgenommene Spannung im Spiel ist. Tango Nuevo weckt keine Action- oder Grusel-Assoziationen, sondern ist quasi maßgeschneidert auf Choreographien, die körperliche Spannung mit Eleganz verbinden. Hier spielt Astor Piazzolla seine Komposition „Libertango“:
In Anlehnung an Piazzolla habe ich zunächst einen Tango auf der akustischen Gitarre komponiert: eine Melodie, begleitet von einer Akkordfolge, die dann in mehreren Versionen variiert wird. Erst im Anschluss an diesen – sozusagen traditionellen, rein akustischen Kompositionsprozess- habe ich begonnen, das Musikstück mit Synthesizern, E-Piano und E-Gitarre zu instrumentieren. In dieser Hinsicht ähnelte der Prozess den oben beschriebenen Adaptionen klassischer Musik mit elektronischen Instrumenten. Das Thema des Skydance Tango, hier in einer „klassischen“ Instrumentierung für E-Gitarre, Klavier und Cello:
Und hier das fertige, in großen Teilen elektronisch instrumentierte Thema des Skydance Tango:
Skydance Tango und mehr in Ausschnitten bei der Aufführung beim Festival Encore!
Während die Rhythmen, Melodien und Akkorde sehr deutlich an Kompositionen Astor Piazzollas angelehnt sind, stellt die vorwiegend elektronische Instrumentierung eine Kontinuität mit den Stücken davor und danach her und erweitert den Raum möglicher Assoziationen durch die vielfältigen Texturen der Klänge. Als Komponist freue ich mich, hier den für die Luftartistik richtigen Ton getroffen zu haben mit einer Musik, die die Szene wirkungsvoll unterstützt. Die kompositorische Sprache ist so eng an Piazzolla angelehnt, dass man von einer Imitation sprechen kann, aber ich kann mich selber auch in diesem Nachahmen wiederfinden: ich liebe die Möglichkeiten spannungsreicher Verzahnung von Rhythmen, wie sie sich im Tango eröffnen und habe sie durch eingeschobene ungerade Takte noch verschärft. Ich schätze die delikaten Dissonanzen in Piazzollas Harmonik und habe daran mit an die verminderte Tonleiter (auch: octatonic scale) angelehnten Sequenzen angeknüpft. Nicht zuletzt aber bin ich kein Tango-Experte und bin auch nicht eingebunden in eine Szene authentischer Tango-Musiker*innen. So ergeben sich zwangsläufig Differenzen zwischen meiner Tango-Interpretation und den mich inspirierenden Originalen und diese Differenzen geben dem Stück seinen spezifischen Charakter.
Imitation als Musikpädagogische Strategie
An der VHS Pankow gebe ich zweimal jährlich eine Reihe von Wochenendkursen zum Thema „Musiktheorie verstehen“. Inhaltlicher Schwerpunkt der Reihe sind musiktheoretische Konzepte zum Verständnis aktueller Musikpraxis, die an europäische und afro-amerikanische Musiktraditionen anknüpft.
Im Rahmen eines Wochenendkurses zum Thema Harmonielehre tauchte der Wunsch auf, Passagen des Stückes „Flim“ des Techno/Ambient-Musikers Aphex Twin aus musiktheoretischer Sicht unter die Lupe zu nehmen.
Schaut man nach Resourcen zu diesem Stück, so finden sich online eine ganze Reihe von Adaptionen, Notationen für Soloklavier oder Ensemble, sowie Analysen. Hier eine Übertragung auf eine Klaviertastatur:
Die Aufteilung in rechte und linke Spielhand in der Darstellung entspricht Elementen im Stück (ich beziehe mich auf die ersten 15 Sekunden):
- in rot sind Akkorde zu sehen, deren Töne nacheinander, als regelmäßige Arpeggien gespielt werden
- gelb sind tiefere Zweiklänge, die länger klingen und rhythmisch weniger regelmäßig sind
- rote und gelbe Töne sind für sich genommen jeweils recht simpel und eindeutig , ergeben aber in Kombination ein komplexeres Gefüge – unterschiedliche rhythmische Schwerpunkte und harmonische Interpretationsmöglichkeiten erzeugen einen schwebenden, mehrdeutigen Eindruck
Aphex Twin ist nicht der erste, der mit der Kombination verschiedener Ebenen Impressionen von Ungreifbarkeit vermitteln will – genau das war ein zentrales Moment im musikalischen Impressionismus Ende das 19. und Anfang des 20. Jarhunderts. Die in Flim angewendete Kombination von Arpeggien und Zweiklängen findet sich mit ganz ähnlicher Wirkung zum Beispiel in dem Klavierstück „Une Barque sur l’Ocean“ von Maurice Ravel:
Auch Ravel kombiniert hier regelmäßige Arpeggien mit Zweiklängen, deren rhythmische Schwerpunkte nicht zusammen fallen und schafft so ein schwebendes, schwer greifbares Klanggeflecht.
Um die Wirksamkeit dieses Rezeptes zu testen, haben wir es nachgemacht, haben in der Gruppe unsere eigene Version erstellt. Haben ausgewählt, welche Septakkorde wir als Arpeggien spieln möchten, welche Terzen wir als Zweiklänge damit kombinieren wollen:
Im Nachgang habe ich noch einen Schlagzeugpart hinzugefügt, so dass sich eine stärkere Vergleichbarkeit ergibt. Der Prozess des Imitierens hat die zugrunde liegenden Prinzipien und möglichen Wirkungen viel klarer deutlich werden lassen als eine reine Analyse das ermöglicht hätte.
Ausklang
Ich möchte nicht unterschlagen, dass Imitation durchaus auch problematische Seiten haben kann: Diskussionen um kulturelle Aneignung weisen zurecht auf ausbeuterische Dynamiken hin, wo Imitation sich nicht als bewundernde Wertschätzung sonder schlichtes Abgreifen darstellt. Auch möchte ich mich hier nicht für Plagiate oder Urheberrechtsverletzungen einsetzen.
Innovation und Originalität haben gerade in elektronischer Musik einen hohen Stellenwert, werden aber möglicherweise häufig auch in ihrer Bedeutung überschätzt. Der Rückbezug auf bekannte Formen, auf bereits Vertrautes ist ganz wesentlich, wenn es darum geht, Musik verstehbar und nachvollziehbar zu machen. Imitation in der Musik kann vergewissern und bestätigen, kann aber durchaus zu neuen Klangfarben, noch nicht dagewesenen Kombinationen und neuen Einsichten führen.