von Gisbert
Als Kind war ich begeisterter Fan von Ernie und Bert. Selten habe ich eine Folge der Sesamstraße im Fernsehen verpasst. Außerdem habe mir Sketche und Lieder auf der Sesamstraßen-Schallplatte angehört, die meine Eltern gekauft hatten.
Mein Lieblingslied auf dieser Schallplatte:
„Hätt ich Dich heut´ erwartet“.
Die Szenerie:
Das Krümelmonster besucht Ernie, wird von Ernie mit Kuchen bewirtet, hätte aber lieber Kekse.
Fand ich damals toll, finde ich heute immer noch toll.
Wenn ich mir das Lied aber auf der offiziellen Youtube-Seite der Sesamstraße anhöre, singt Ernie anders, irgendwie seltsam:
Hier reinhören – Achtung, Ernie singt seltsam!
Was ist los mit Ernie? Die Stimme ist gleich, der Text ist gleich, die Melodietöne sind eigentlich auch nicht geändert, trotzdem stimmt irgendwas nicht – zumindest für meine Ohren, die Ernie immer auf Schallplatte hatten singen hören. Auf Schallplatte klang Ernie anders als nun im Internet auf der offiziellen Youtube-Seite der Sesamstraße. Und zwar klingt Ernie anders, weil er mit dem Gesang nun später einsetzt. Warum? Ist Internet-Ernie schüchterner als Schallplatten-Ernie?
Für die Antwort werfen wir zunächst einen Blick auf die Geschichte dieses Liedes.
Ein Hit aus den 50er Jahren
Im Jahr 1950 hatte die Sängerin Eileen Barton in den USA einen Hit mit dem Lied „If I knew you were coming I´d ´ve baked a cake“:
Dieses Lied haben die Macher der amerikanischen Sesamstraße offenbar aufgegriffen für den Sketch mit Ernie und Krümelmonster. Hier ist er in der englischsprachigen Version zu sehen:
Das ist doch das gleiche Lied, nicht wahr? Der Text, die Melodie, die Akkorde sind ganz klar wiederzuerkennen.
Für das Deutsche Publikum wurde diese Version bearbeitet; der Film blieb gleich, aber der Ton wurde geändert. Und zwar einmal durch die sogenannte Synchronisierung bzw. Synchronisation: deutschsprachige Schauspieler*innen sprechen und singen synchron zum Original eine deutsche Textfassung. Die Synchronisation brachte mir als Kind einen Ernie, den ich verstehen konnte.
Bei vielen Filmen und Serien bleibt es dabei, doch für die deutsche Version von „Hätt ich Dich heut´erwartet“ wurde nicht nur Sprache und Gesang geändert, auch die Begleitung wurde komplett neu aufgenommen. Der deutsche Jazzorganist Ingfried Hoffmann hat das Stück mit seinem Arrangement wesentlich bereichert. Anstatt vor allem zwischen zwei Akkorden bewegt sich die Begleitung in seiner Version durch eine ganze Reihe verschiedener Akkorde, die das Stück vielfältiger und ereignisreicher machen.
Aber nicht nur die Begleitung, auch den Gesang selber hat Hoffmann geändert: die Melodie startet zwei Töne höher und folgt dem Fluss des deutschen Textes.
Nicht geändert hat er allerdings Ernies Einsatz. Wie bei „If I knew you were coming…“ startet Ernie auch bei „Hätt ich Dich heut´erwartet“ mit einem sogenannten Auftakt. Erst die dritte Silbe des Gesangs ist betont:
„If I KNEW…“
„Hätt´ ich DICH…“
Gleichzeitig mit der Betonung im Gesang gibt es auch bei den Begleitinstrumenten eine Betonung an dieser Stelle, es beginnt der erste komplette Takt.
Auf dem offiziellen Youtube-Kanal der Sesamstraße singt Ernie das Lied nun aber ohne Auftakt. E-Piano und Schlagzeug setzen einen ersten Akzent, beginnen den Takt, erst dann setzt Ernie ein, einen halben Takt später als er das vorher gemacht hat.
(PLING)“Hätt´ ich Dich…“
Um zu klären, wie das sein kann, werfen wir nun einen Blick in die Geschichte der Aufnahme- und Medientechnik.
Vom Tonband zur Schallplatte
Musik und Gesang wurden in den 1970er Jahren in einem Aufnahmestudio auf Tonband aufgenommen. Nicht alle Beteiligten mussten dabei gleichzeitig aktiv sein, sondern verschiedene Elemente wurden nacheinander auf einzelne Spuren aufgenommen, die sogenannte Mehrspuraufnahme. Sicher hat zuerst die Band die Musik eingespielt und im Anschluss wurde dazu der Gesang aufgenommen, als ein Overdub. Damit trotz dieses Nacheinanders alles auch gut zuammenpasst, gab es einen sogenannten Click-Track: eine Tonbandspur, auf der das regelmäßige Klicken eines Metronomes zu hören war, dass für alle Beteiligten das Tempo angab. Und reichten die Spuren auf einem Tonband nicht aus, dann ließ man zwei Tonbänder parallel laufen, um auch alle Instrumente, die es brauchte, aufnehmen zu können.
War alles aufgenommen, wurden die Spuren abgemischt, das heißt die Lautstärken der verschiedenen Instrumente und des Gesangs aneinander angepasst. Dieser Mix wurde dann mit weiteren Stücken auf einer Cassette oder Schallplatte zusammengefasst und verkauft.
Soweit so gut. Einmal auf Schallplatte gepresst würde Ernies Gesang sich nicht ändern.
Die CD tritt an die Stelle der Schallplatte
Dann aber gab es in den 80er Jahren einen technologischen und medialen Umbruch: die Compact Disc, abgekürzt CD, kam auf den Markt. Nun wurde Musik, die schonmal veröffentlicht worden war, auf einem anderen Medium erneut veröffentlicht. Die beste Qualität ließ sich erzielen, wenn man dafür die Originaltonbänder heraussuchte und nun für die Verbreitung auf CD digitalisierte.
Und wenn sich nun die Spuren für ein Musikstück auf mehreren Bändern befanden musste man dabei aufpassen, dass beide Bänder an der richtigen Stelle und genau gleichzeitig starteten und dann auch im richtigen Tempo weiterliefen. Bei dieser Neuübertragung konnten also Fehler passieren und ich gehe davon aus, dass das der Grund ist, warum Ernie später einsetzt. Das Tonband, auf dem sich der Gesang befand ist im Vergleich zum Tonband mit der Begleitung bei der Übertragung auf CD einfach später gestartet worden.
Experimente mit und ohne Tonband
Komponist*innen haben solche Prozesse oft in voller Absicht genutzt und haben dabei faszinierende Musik geschaffen. Steve Reich hat in seiner Tonbandkomposition „Come out“ mit kurzen tape loops, also Schleifen aus zusammengeklebtem Tonband gearbeitet. Eine kurze gesprochene Phrase, vervielfältigt auf mehrere Tonbänder, verschiebt sich gegeneinander, wodurch sich spezielle Effekte ergeben:
Brian Eno hat mit Ambient 1: Music for Airports tape loops verschiedener Längen kompositorisch genutzt. Wenige Klänge kommen in immer neuen Konstellationen zusammen. Auf dieser und dieser Website wird das nicht nur (auf Englisch) erklärt, sondern man kann auch selber mit diesen Klängen spielen.
Auch ganz ohne Tonband macht Terry Riley in seinem Minimal Music-Klassiker „In C“ das vorher, gleichzeitig oder später Einsetzen musikalischer Patterns zum Grundprizip:
Kann man hier selber ausprobieren, und sich hier (englisch) erklären lassen.
Delia Derbyshire, eine der Pionierinnen elektronischer Musik, hat die Titelmusik der Fernsehserie Dr Who aus vielen vielen einzelnen Klängen auf Tonband arrangiert. Hier erklärt sie selber (auf englisch), wie sie das gemacht hat:
Auch heute machen Musiker*innen immer noch spannende Experimente mit Tonband und Cassetten. Bei dieser Aufnahme von Amulets/Randall Taylor gibt es keinen Takt, kein zu spät oder zu früh einsetzen sondern ein wunderschön atmosphärisches Durcheinander:
Zurück zu Ernie und dem Krümelmonster
Für mich persönlich klingt nur die „Hätt ich Dich…“-Version mit Auftakt „richtig“. Ich habe diese Version als Kind unzählige Male gehört und habe sie in dieser Form verinnerlicht. Vielen Musiker*innen, die das Stück covern, scheint es ähnlich zu gehen.
Mit Ukulele und Auftakt:
Thomas D hier mit einem Arrangement als Rap, was sonst. Andere Melodie, andere Akkorde, anderes Tempo… aber der Auftakt ist da:
Nochmal Rap mit MC Smook – vermutlich jünger als Thomas D und mit der CD-Version aufgewachsen? Zumindest zitiert er die am Anfang und betont in seinem Rap dann besonders, dass die Phrase „Hätt ich Dich…“ erst nach Taktanfang – also hinter der lauten Bassdrum – losgeht:
Und auch Peter Zucker verzichtet auf den Auftakt und hält sich an die spätere Fassung in seiner süßen Version:
Das heutige Nebeneinander dieser (Cover-)Versionen zeigt auf wunderbare Weise, wie Musik nicht nur durch künstlerische Vorstellungen, sonder auch in hohem Maße durch technische Prozesse geprägt ist und eben auch durch Fehler – zum Beispiel bei der Übertragung von einem Medium auf ein anderes. Die ursprüngliche deutsche Version konnte man noch als eine recht freie Übertragung des englischsprachigen Originals hören, die verschobene Version aber wirkt ganz anders. Solche Prozesse, Fehler, kann man bewusst kreativ nutzen und sich an der Vielfalt der Möglichkeiten freuen.
Ein Dankeschön an Gero Zahns Blog, dem Ernies verschobener Gesang auch schon aufgefallen ist.