Warum singt Ernie so komisch? Eine Spurensuche mit Tonbändern, Schallplatten und CDs

with No Comm­ents

von Gis­bert

Als Kind war ich begeis­ter­ter Fan von Ernie und Bert. Sel­ten habe ich eine Fol­ge der Sesam­stra­ße im Fern­se­hen ver­passt. Außer­dem habe mir Sket­che und Lie­der auf der Sesam­stra­ßen-Schall­plat­te ange­hört, die mei­ne Eltern gekauft hatten.

Cover der Schall­plat­te von 1973 Foto von Dis­co­gs

Mein Lieb­lings­lied auf die­ser Schallplatte:

„Hätt ich Dich heut´ erwartet“.

Die Sze­ne­rie:

Das Krü­mel­mons­ter besucht Ernie, wird von Ernie mit Kuchen bewir­tet, hät­te aber lie­ber Kekse.

Hätt´ich Dich heut´ erwar­tet auf der Schall­plat­te von 1973

Fand ich damals toll, fin­de ich heu­te immer noch toll.

Wenn ich mir das Lied aber auf der offi­zi­el­len You­tube-Sei­te der Sesam­stra­ße anhö­re, singt Ernie anders, irgend­wie seltsam:

Hier rein­hö­ren – Ach­tung, Ernie singt seltsam!

Was ist los mit Ernie? Die Stim­me ist gleich, der Text ist gleich, die Melo­die­tö­ne sind eigent­lich auch nicht geän­dert, trotz­dem stimmt irgend­was nicht – zumin­dest für mei­ne Ohren, die Ernie immer auf Schall­plat­te hat­ten sin­gen hören. Auf Schall­plat­te klang Ernie anders als nun im Inter­net auf der offi­zi­el­len You­tube-Sei­te der Sesam­stra­ße. Und zwar klingt Ernie anders, weil er mit dem Gesang nun spä­ter ein­setzt. War­um? Ist Inter­net-Ernie schüch­ter­ner als Schallplatten-Ernie?

Für die Ant­wort wer­fen wir zunächst einen Blick auf die Geschich­te die­ses Liedes.

Ein Hit aus den 50er Jahren

Im Jahr 1950 hat­te die Sän­ge­rin Eileen Bar­ton in den USA einen Hit mit dem Lied „If I knew you were coming I´d ´ve baked a cake“:

Der Ori­gi­nal-Song von 1950

Die­ses Lied haben die Macher der ame­ri­ka­ni­schen Sesam­stra­ße offen­bar auf­ge­grif­fen für den Sketch mit Ernie und Krü­mel­mons­ter. Hier ist er in der eng­lisch­spra­chi­gen Ver­si­on zu sehen:

„If I knew you were coming I´d ´ve baked a cake“ mit Ernie und Krümelmonster

Das ist doch das glei­che Lied, nicht wahr? Der Text, die Melo­die, die Akkor­de sind ganz klar wiederzuerkennen.

Für das Deut­sche Publi­kum wur­de die­se Ver­si­on bear­bei­tet; der Film blieb gleich, aber der Ton wur­de geän­dert. Und zwar ein­mal durch die soge­nann­te Syn­chro­ni­sie­rung bzw. Syn­chro­ni­sa­ti­on: deutsch­spra­chi­ge Schauspieler*innen spre­chen und sin­gen syn­chron zum Ori­gi­nal eine deut­sche Text­fas­sung. Die Syn­chro­ni­sa­ti­on brach­te mir als Kind einen Ernie, den ich ver­ste­hen konnte.

Bei vie­len Fil­men und Seri­en bleibt es dabei, doch für die deut­sche Ver­si­on von „Hätt ich Dich heut´erwartet“ wur­de nicht nur Spra­che und Gesang geän­dert, auch die Beglei­tung wur­de kom­plett neu auf­ge­nom­men. Der deut­sche Jazz­or­ga­nist Ing­fried Hoff­mann hat das Stück mit sei­nem Arran­ge­ment wesent­lich berei­chert. Anstatt vor allem zwi­schen zwei Akkor­den bewegt sich die Beglei­tung in sei­ner Ver­si­on durch eine gan­ze Rei­he ver­schie­de­ner Akkor­de, die das Stück viel­fäl­ti­ger und ereig­nis­rei­cher machen.
Aber nicht nur die Beglei­tung, auch den Gesang sel­ber hat Hoff­mann geän­dert: die Melo­die star­tet zwei Töne höher und folgt dem Fluss des deut­schen Textes.

Nicht geän­dert hat er aller­dings Ernies Ein­satz. Wie bei „If I knew you were coming…“ star­tet Ernie auch bei „Hätt ich Dich heut´erwartet“ mit einem soge­nann­ten Auf­takt. Erst die drit­te Sil­be des Gesangs ist betont:

„If I KNEW…“

„Hätt´ ich DICH…“

Gleich­zei­tig mit der Beto­nung im Gesang gibt es auch bei den Begleit­in­stru­men­ten eine Beto­nung an die­ser Stel­le, es beginnt der ers­te kom­plet­te Takt.

Auf dem offi­zi­el­len You­tube-Kanal der Sesam­stra­ße singt Ernie das Lied nun aber ohne Auf­takt. E-Pia­no und Schlag­zeug set­zen einen ers­ten Akzent, begin­nen den Takt, erst dann setzt Ernie ein, einen hal­ben Takt spä­ter als er das vor­her gemacht hat.

(PLING)“Hätt´ ich Dich…“

Um zu klä­ren, wie das sein kann, wer­fen wir nun einen Blick in die Geschich­te der Auf­nah­me- und Medientechnik.

Vom Tonband zur Schallplatte

Musik und Gesang wur­den in den 1970er Jah­ren in einem Auf­nah­me­stu­dio auf Ton­band auf­ge­nom­men. Nicht alle Betei­lig­ten muss­ten dabei gleich­zei­tig aktiv sein, son­dern ver­schie­de­ne Ele­men­te wur­den nach­ein­an­der auf ein­zel­ne Spu­ren auf­ge­nom­men, die soge­nann­te Mehr­spur­auf­nah­me. Sicher hat zuerst die Band die Musik ein­ge­spielt und im Anschluss wur­de dazu der Gesang auf­ge­nom­men, als ein Over­dub. Damit trotz die­ses Nach­ein­an­ders alles auch gut zuam­men­passt, gab es einen soge­nann­ten Click-Track: eine Ton­band­spur, auf der das regel­mä­ßi­ge Kli­cken eines Metro­no­mes zu hören war, dass für alle Betei­lig­ten das Tem­po angab. Und reich­ten die Spu­ren auf einem Ton­band nicht aus, dann ließ man zwei Ton­bän­der par­al­lel lau­fen, um auch alle Instru­men­te, die es brauch­te, auf­neh­men zu können.

Klang auf­neh­men mit Ton­band – Video von der Deut­schen Welle

War alles auf­ge­nom­men, wur­den die Spu­ren abge­mischt, das heißt die Laut­stär­ken der ver­schie­de­nen Instru­men­te und des Gesangs anein­an­der ange­passt. Die­ser Mix wur­de dann mit wei­te­ren Stü­cken auf einer Cas­set­te oder Schall­plat­te zusam­men­ge­fasst und verkauft. 

„Hätt´ ich Dich heut´ erwar­tet“ auf Schall­plat­te Foto von Dis­co­gs

Soweit so gut. Ein­mal auf Schall­plat­te gepresst wür­de Ernies Gesang sich nicht ändern.

Die CD tritt an die Stelle der Schallplatte

Dann aber gab es in den 80er Jah­ren einen tech­no­lo­gi­schen und media­len Umbruch: die Com­pact Disc, abge­kürzt CD, kam auf den Markt. Nun wur­de Musik, die schon­mal ver­öf­fent­licht wor­den war, auf einem ande­ren Medi­um erneut ver­öf­fent­licht. Die bes­te Qua­li­tät ließ sich erzie­len, wenn man dafür die Ori­gi­nal­ton­bän­der her­aus­such­te und nun für die Ver­brei­tung auf CD digi­ta­li­sier­te.

„Hätt´ich Dich heut´ erwar­tet auf CD“ Foto von Dis­co­gs

Und wenn sich nun die Spu­ren für ein Musik­stück auf meh­re­ren Bän­dern befan­den muss­te man dabei auf­pas­sen, dass bei­de Bän­der an der rich­ti­gen Stel­le und genau gleich­zei­tig star­te­ten und dann auch im rich­ti­gen Tem­po wei­ter­lie­fen. Bei die­ser Neu­über­tra­gung konn­ten also Feh­ler pas­sie­ren und ich gehe davon aus, dass das der Grund ist, war­um Ernie spä­ter ein­setzt. Das Ton­band, auf dem sich der Gesang befand ist im Ver­gleich zum Ton­band mit der Beglei­tung bei der Über­tra­gung auf CD ein­fach spä­ter gestar­tet worden.

Experimente mit und ohne Tonband

Komponist*innen haben sol­che Pro­zes­se oft in vol­ler Absicht genutzt und haben dabei fas­zi­nie­ren­de Musik geschaf­fen. Ste­ve Reich hat in sei­ner Ton­band­kom­po­si­ti­on „Come out“ mit kur­zen tape loops, also Schlei­fen aus zusam­men­ge­kleb­tem Ton­band gear­bei­tet. Eine kur­ze gespro­che­ne Phra­se, ver­viel­fäl­tigt auf meh­re­re Ton­bän­der, ver­schiebt sich gegen­ein­an­der, wodurch sich spe­zi­el­le Effek­te ergeben:

Ste­ve Reich lässt Ton­bän­der absicht­lich asyn­chron laufen

Bri­an Eno hat mit Ambi­ent 1: Music for Air­ports tape loops ver­schie­de­ner Län­gen kom­po­si­to­risch genutzt. Weni­ge Klän­ge kom­men in immer neu­en Kon­stel­la­tio­nen zusam­men. Auf die­ser und die­ser Web­site wird das nicht nur (auf Eng­lisch) erklärt, son­dern man kann auch sel­ber mit die­sen Klän­gen spielen.

Auch ganz ohne Ton­band macht Ter­ry Riley in sei­nem Mini­mal Music-Klas­si­ker „In C“ das vor­her, gleich­zei­tig oder spä­ter Ein­set­zen musi­ka­li­scher Pat­terns zum Grundprizip:

Ter­ry Riley: „In C“ – Die Musiker*innen ent­schei­den sel­ber, ob sie frü­her oder spä­ter einsetzen

Kann man hier sel­ber aus­pro­bie­ren, und sich hier (eng­lisch) erklä­ren lassen.

Delia Der­byshire, eine der Pio­nie­rin­nen elek­tro­ni­scher Musik, hat die Titel­mu­sik der Fern­seh­se­rie Dr Who aus vie­len vie­len ein­zel­nen Klän­gen auf Ton­band arran­giert. Hier erklärt sie sel­ber (auf eng­lisch), wie sie das gemacht hat:

Delia Der­byshire im Radio­pho­nic Work­shop der BBC

Auch heu­te machen Musiker*innen immer noch span­nen­de Expe­ri­men­te mit Ton­band und Cas­set­ten. Bei die­ser Auf­nah­me von Amulets/Randall Tay­lor gibt es kei­nen Takt, kein zu spät oder zu früh ein­set­zen son­dern ein wun­der­schön atmo­sphä­ri­sches Durcheinander:

Ton­band­schlei­fen-Durch­ein­an­der von Amulets

Zurück zu Ernie und dem Krümelmonster

Für mich per­sön­lich klingt nur die „Hätt ich Dich…“-Version mit Auf­takt „rich­tig“. Ich habe die­se Ver­si­on als Kind unzäh­li­ge Male gehört und habe sie in die­ser Form ver­in­ner­licht. Vie­len Musiker*innen, die das Stück covern, scheint es ähn­lich zu gehen.

Mit Uku­le­le und Auftakt:

Jut­ta Rie­del-Henk mit Ukulele

Tho­mas D hier mit einem Arran­ge­ment als Rap, was sonst. Ande­re Melo­die, ande­re Akkor­de, ande­res Tem­po… aber der Auf­takt ist da:

Rap mit Auf­takt von Tho­mas D feat. Roman LOb

Noch­mal Rap mit MC Smook – ver­mut­lich jün­ger als Tho­mas D und mit der CD-Ver­si­on auf­ge­wach­sen? Zumin­dest zitiert er die am Anfang und betont in sei­nem Rap dann beson­ders, dass die Phra­se „Hätt ich Dich…“ erst nach Takt­an­fang – also hin­ter der lau­ten Bass­drum – losgeht:

Rap ohne Auf­takt mit MC Smook

Und auch Peter Zucker ver­zich­tet auf den Auf­takt und hält sich an die spä­te­re Fas­sung in sei­ner süßen Version:

Peter Zucker hält sich eng an Ing­fried Hoff­manns Arran­ge­ment, aller­dings ohne Auftakt

Das heu­ti­ge Neben­ein­an­der die­ser (Cover-)Versionen zeigt auf wun­der­ba­re Wei­se, wie Musik nicht nur durch künst­le­ri­sche Vor­stel­lun­gen, son­der auch in hohem Maße durch tech­ni­sche Pro­zes­se geprägt ist und eben auch durch Feh­ler – zum Bei­spiel bei der Über­tra­gung von einem Medi­um auf ein ande­res. Die ursprüng­li­che deut­sche Ver­si­on konn­te man noch als eine recht freie Über­tra­gung des eng­lisch­spra­chi­gen Ori­gi­nals hören, die ver­scho­be­ne Ver­si­on aber wirkt ganz anders. Sol­che Pro­zes­se, Feh­ler, kann man bewusst krea­tiv nut­zen und sich an der Viel­falt der Mög­lich­kei­ten freuen.

Ein Dan­ke­schön an Gero Zahns Blog, dem Ernies ver­scho­be­ner Gesang auch schon auf­ge­fal­len ist.

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